9TH EXIST STREET -

WELCOME TO SHIRLEYLAND

(Ein Interview mit John Shirley)

 

 

Wenn einer eine Reise tut. Der US-amerikanische Schriftsteller, Musiker und Sänger John Shirley (* 1953 in Houston, Texas) hat viel Lebenszeit damit verbracht, durch die Welt zu nomadisieren und allerorten Erzählungen, Romane und – ja! – Songs niederzuschreiben, er hat Orte verlassen und ist wieder zurückgekehrt oder auch nicht. Romane wie Stadt geht los oder Anthologien wie Hitzefühler künden von einem gewissen Audio-Urbanismus, der sich – einer inneren Logik folgend – verstärkt auch in seiner Musik wiederfindet. Allerdings ist das keine funktional distanzierte „Musik und Literatur der Städte“, sondern atmosphärisch dichte Umgebungskunst, die bestimmte Erfahrungen zurückholt und ganze Genres definiert hat: Romane wie Black Glass und die legendäre Eclipse-Trilogie konkretisieren Cyberpunk-Literatur auf höchstem Niveau, Kinder der Hölle ist eine quasi-sinfonische Delikatesse des modernen Horror-Romans, Literatur aus einem fremden Haus in einer fremden Stadt. Seine Kurzgeschichten-Sammlung Black Butterflies wiederum – von literarischem Blues ebenso affiziert wie von Horror- und Science Fiction-Einflüssen – wurde von Publisher’s Weekly zu einem der besten Bücher des Jahres 1998 erklärt und zusätzlich mit dem Bram Stoker-Award und dem International Horror Guild-Award bedacht.

Der Anlass, das folgende (ursprünglich im Jahr 2012 geführte) Interview noch einmal hervorzuholen, sind nun der Start einer umfangreichen John-Shirley Werke-Reihe (Apex-Verlag) sowie die physikalische und digitale Wieder-Veröffentlichung zweier CDs von John Shirley: des Mini-Albums Mountain Of Skullz und des Doppel-Albums Broken Mirror Glas (erschienen bei Black October-Records). Sowohl die Bücher als auch die Musik sind der ideale Einstieg – über den Umweg fiebriger Verdichtungen einer polymorphen Literatur- und Raum-Musik – in das zerklüftet roughe, aber ebenso frische und großzügige Klima eines Hardcore-Kontinuums und in meine aktuelle Lieblings-Musik und -Lektüre.

 

Over to you, John…

 

 

 

Christian Dörge: John, im Januar 2013 veröffentlichtest Du das Mini-Album Mountain Of Skullz sowie das Doppel-Album Broken Mirror Glass. The Anthology 1978 – 2012 beim deutschen Label Black October-Records. Beide CDs präsentieren ein Profil Deines Werkes und Deiner Karriere als Musiker. Wenn Du Dir heute diese Songs anhörst, welches sind Deine intensivsten Gefühle und Erinnerungen im Zusammenhang mit diesen?

 

John Shirley: Diese neuen Veröffentlichungen sind selbstverständlich eine Art Reise, insbesondere das Doppel-Album Broken Mirror Glass, auf welchem die Songs in einer ungefähr chronologischen Reihenfolge zusammengestellt sind.  Folglich ist dies für mich persönlich eine Reise durch viele Jahre des Aufnehmens von Musik und eine Reise durch mein Leben – meine Obsessionen, meine Verfehlungen, meine Perioden von Dunkelheit und Licht, meine Rückschritte und meine Fortschritte; die Probleme der Zusammenarbeit mit anderen Musikern – jeder Musiker ist ein menschliches Wesen mit ganz individuellen Problemen – und der Triumph einer solchen Zusammenarbeit. All dies findet sich darin wieder. Ich wählte die Songs sehr behutsam von vorhandenen Veröffentlichungen aus, sie sind also nicht nur ein bedeutender Ausdruck dessen, wo ich mich künstlerisch befunden habe, sondern auch dafür, wie sich Rock-Musik verändert hat – und für die Musiker, mit denen ich zusammenwirkte. Ich hatte großes Glück in der Hinsicht so viele talentierte Mitwirkende gefunden zu haben. Gewiß war es jedes Mal eine Art Lotterie-Hauptgewinn.

Die ersten Songs auf Broken Mirror Glass sind frühe Aufnahmen; die ersten beiden stammen aus der Punk-Rock-Ära, als ich der ursprüngliche Lead-Sänger von Sado-Nation gewesen bin – damals arbeitete ich mit dem grandiosen Gitarristen und Songwriter Dave Corboy zusammen -, und sie erinnern mich an die intensive Spannung dieser Live-Shows. Damals – während eines Konzerts in der Neujahrsnacht – war um die Bühne herum noch jede Menge Weihnachts-Dekoration angebracht, und beim Höhepunkt des Konzerts sprang ich auf einen zweieinhalb Meter hohen, vollständig dekorierten Weihnachtsbaum und ritt auf ihm, als sei er ein Pferd, quer durch den Raum – und hinterließ eine Spur aus Teilen des Baumes und zerbrochenem Glas; keine Spiegelscherben, aber glänzende Christbaumkugeln! Ich heulte in das Mikrophon, hielt es in der einen Hand, während ich mit der anderen den Baum festhielt, und das alles im Rhythmus der Musik. Und für mich ist dies sehr bezeichnend für diese Ära: Immer hart an der Grenze und völlig außer Kontrolle. Und selbst wenn ich Herr der Lage gewesen bin, beschwor ich den Geisteszustand des Rock’n’Roll – die beste Form von ‚Besessenheit‘. Hierfür bedarf es keines Exorzisten.

Spätere Aufnahmen mit der Progressive-Funk-Band Obession und mit der Band Panther Moderns erinnern mich an meine Mit-Musiker, an die starken Übereinstimmungen, an das gemeinsame Lachen, an ihren Sinn für Humor – aber ebenso an Auseinandersetzungen. Konflikte sind ein Teil der Gegebenheiten und der Kreativität einer Band.

Ich denke auch zurück an meinen zeitweiligen Kampf mit den Drogen – ich stand nicht unter dem Einfluß von Drogen während der Aufnahmen oder während der Live-Shows, aber sie quälten mich hin und wieder, damals. Ich habe immer versucht davon loszukommen, und häufig gab es lange Zeiten ohne irgendwelche Drogen. Dieser Kampf findet sich andeutungsweise auch in meinen Song-Texten wieder, z.B. in den Obsession-Songs… letztlich habe ich den Kampf jedoch gewonnen, ich bin heute frei von jeglichen Drogen. Woraus folgt: Allerlei persönliche Kämpfe zusammengemischt bringen die kreative Suppe ganz gehörig zum Kochen.

 

 

Im Verlauf der Jahre hast Du – wie bereits angedeutet – mit vielen unterschiedlichen Musikern zusammengearbeitet. Hast Du noch Kontakt zu ihnen? Was denkst rückblickend über die Zusammenarbeit mit ihnen?

 

Ich fühle mich glücklich, begünstig. Ich bin einfach erstaunt, daß ich diese Jungs dazu gebracht habe, mit mir zu spielen. Leute wie Chris Cunningham, Jerry Agony, Dave Corboy, John Karr, Michael Chocholak, Corby Simpson, Dale Van Wormer, Tony DeStefano, Michael Layne-Heath – ausgezeichnete, abenteuerlustige Songschreiber, innovative Künstler, ungeheuer talentierte Musiker.

Bands im optimalen Sinne des Wortes verfügen über ein kollektives Bewußtsein, eine gestalterische Auffassungsgabe, manchmal auch über eine Art von Gruppen-Genialität, sodaß die Band als Gesamtheit klüger ist als ihre individuellen Mitglieder. Und in jedem Fall waren wir fähig, diese gestaltende Kraft zu beschwören.

 

 

Seit 1978 hast Du Songs unterschiedlichster Stile geschrieben und auf die Bühne gebracht. War dies so geplant als Du Deine Karriere als Musiker begonnen hast?

 

Nichts war wirklich geplant – außer die Gelegenheit zu ergreifen in Worte zu fassen, was wahrlich beinahe nicht in Worte zu fassen ist. Wenn ich mit den Leuten sprach konnte ich nicht allzu genau ausdrücken, worum es mir ging, aber irgendwie brach es sich Bahn derweil wir die Songs schrieben oder Konzerte spielten. Und weißt Du – ich war ein rastloser Mensch, künstlerisch und – nun ja – geographisch. Dies und private Umstände – ich war mehrere Male verheiratet – führte dazu, daß ich meinen Lebenswandel veränderte; und meine Musik veränderte sich auf die gleiche Weise. Außerdem war ich sehr daran interessiert, in New York City zu spielen, aber Sado-Nation wollten dies nicht und mochten auch nicht dorthin übersiedeln, also tat ich’s allein und begann mit Obsession. Wie spielten im CBGB und anderen Clubs, veröffentlichten ein Album auf Celluloid-Records (das Label, welches auch Alben von u.a. Material, Soft Cell und Africa Bombataa auf den Markt brachte). Ein weiterer Faktor war: Das Schreiben von Büchern war meine reguläre Arbeit – ich schrieb Romane um Rock-Bands zu finanzieren! Und so, wie ich mich als Schriftsteller entwickelte, so wirkte sich dies auch auf die Art und Weise aus, wie ich Musik schrieb: Mein frühes Schreiben ist eher Punk-Rock; mein Spätwerk eher Prog-Rock.

 

 

Wie würdest Du Deine Entwicklung als Musiker beschreiben?

 

Ich bin in erster Linie ein Sänger – nur in diesem Sinne bin ich auch Musiker. Ich war schon immer ein guter Live-Performer, aber ein guter Sänger zu werden war ein langer Prozeß. Zunächst versuchte ich eine Art rhythmische Vokalisierung, was zumeist gut funktionierte. Als Sänger war ich zunächst beeinflußt von Punk-Performern; später vermehrt von Prog-Rock- und frühen Goth-Interpreten. Letztendlich jedoch entdeckte ich meine eigene Stimme und hörte mir selbst genauer zu, wodurch ich mehr und mehr melodisch zu singen lernte. Allerdings verlor ich nie die Nähe zum ursprünglichen Charakter meiner Stimme, zur zornigen, dringlichen und zielstrebigen Energie des frühen John Shirley. Natürlich paßte ich mich auch an meine Musiker an – waren sie eher fortschrittlich, so war ich dies auch.

 

 

Welche Art von Musik und Lyrik/Songtexten inspirierten Dich, selbst Musiker/Lyriker zu werden? Welche Musik hat Dich geformt?

 

Ich begann zunächst damit, mich eingehend mit Elvis Presley und den Beatles zu beschäftigen, es folgten Jimi Hendrix sowie psychedelisches Material wie Blue Cheer und von Electric-Blues-Künstler. Schon früh wurde ich beeinflußt von den Sex Pistols, den frühen The Clash, von Mick Jagger, Iggy Pop und Alice Cooper, von diversen Blues-Künstlern wie Howling Wolf und Muddy Waters, bisweilen auch von Captain Beefheart. Es geht dementsprechend ebenso um die Dramatik wie es um Musik geht. Und ich sollte Frank Zappa erwähnen – sein Sinn für Humor und sein Eklektizismus prägten mich nachhaltig. Aber zumeist beschäftigte mich Musik, die mir dabei helfen konnte, über meine Depressionen, über meinen Kampf mit meinen Süchten, über meine Traurigkeit (bedingt durch meine emotionalen Probleme mit Frauen) hinauszuwachsen – genau dies sind beständig wiederkehrende Inspirationen für Rock- und Blues-Musiker. Und ich war Schriftsteller, ich veröffentlichte Kurzgeschichten und Romane, und folglich war ich als Schreiber von Song-Texten von den gleichen Künstlern beeinflußt, die auch meine Prosa inspirierten – die Erzählungen und Gedichte von Edgar Allan Poe, von Thomas Hardy und den großen Dark-Fantasy-Autoren. Zappa nannte Robert Sheckley und andere als Inspiration; Pink Floyd, King Crimson und Bauhaus scheinen zeitweilig ebenso von ihnen beeinflußt gewesen zu sein.

Und natürlich hat mich auch Todd Rundgren beeinflußt – und Blue Oyster Cult, die hinsichtlich ihrer Songtexte mit dem großartigen Science Fiction-/Fantasy-Schriftsteller Michael Moorcock zusammenarbeiteten – ebenso wie sie später mich baten, Songtexte für sie zu verfassen. Ich schrieb 18 Songtexte, die von Blue Oyster Cult vertont wurden.

Ich liebte stets alle möglichen Arten von Songtexten, angefangen bei Rockabilly, aber zumeist waren es Lyrics von Jimi Hendrix, Patti Smith, Lou Reed, Texte der Lyriker von Blue Oyster Cult (einschließlich Jim Carroll), von King Crimson, den frühen Pink Floyd, von Peter Murphy, Ian Curtis, Ian Dury. Die Poeten des Rock’n’Roll. Dichter, die mit der Musik verschmolzen waren. Oh, und natürlich darf ich an dieser Stelle Johnny Cash und Leonard Cohen nicht vergessen!

Ich wurde etwa in gleichem Maße von Punk-Rock, Frank Zappa, King Crimson, Lou Reed und Blue Oyster Cult beeinflußt – ebenso waren die Stooges stets ein wahrhaftiger Einfluß, und noch heute covere ich live Songs der Stooges wie z.B. ‚TV Eye‘, ein Titel, der auch auf meinem Mini-Album Mountain Of Skullz enthalten ist. Iggy Pop’s streitlustige Leidenschaft war befreiend. Und sie ist es noch.

 

 

Wie bereits ausgeführt hast Du Deine ersten musikalischen Schritte als Teil der Band SADO-NATION getan – und mit Punk-Rock. Aber warum ausgerechnet Punk-Rock? Wegen der unbändigen Energie, die davon ausging – oder wegen der ‚Das können wir auch!‘-Attitüde, wegen des sub-kulturellen Aspekts?

 

Ja, zum Teil gewiß wegen dieser Energie, wegen der unverfälschten Kapazität für Gefühle darin. Bands wie die Ramones mögen allzu einfach klingen, aber für mich ist ihre Musik wie eine Skulptur aus Metall, schwer und gewaltig, ihre Musik hat Struktur und ist klanglich von enormer Dichte. Ebenso wie ich haben sie ihre Wurzeln in frühem Rock’n’Roll, in Garagen-Bands, und diese ‚verstärkte Ursprünglichkeit‘ hat mich immer schon gereizt – denn ebendort komme ich her. Und wiederum war es der scharfkantige Zorn in ihrer Musik, der mich anzog. Und ich hatte viel Zorn in mir, den es auszudrücken galt. Und es war (und ist) ein schwarzer Humor in der Musik der Ramones, der völlig auf meiner Wellenlänge liegt.

 

 

Wie denkst Du über europäische Punk-Acts wie die SEX PISTOLS oder THE DAMNED?

 

Die Leute, die die Sex Pistols herabwürdigen, hängen ihr Fähnchen in den Wind und verhalten sich idiotisch. Die Pistols wurden zwar von Malcolm Maclaren aufgebaut, aber wer denkt, alles ließe sich auf Malcolm zurückführen, der kennt ihn nicht (und ich kannte ihn!) und der weiß auch nichts über deren Musik. Hört euch Steve Jones‘  Zusammenarbeit mit Iggy Pop an – ‚Cold Metal‘ - , und ihr werdet erkennen, welch ein wahrhaftiger Songwriter und kraftvoller Gitarrist er gewesen ist. John Lydon war belesen und gebildet, er war wirklich von Bedeutung und ein außerordentlich charismatischer Sänger. Gleiches läßt sich über seine Band Public Image Ltd. sagen. The Damned wiederum war eine Band, die ihren Sound im Laufe der Zeit verloren hat, aber sie war enorm wichtig sowohl für Punk- als auch für Gothic-Bands, und später haben diverse New Wave-Künstler an den Sound von The Damned angeknüpft.

 

 

Später – in den Jahren 1996 – 1997 – hast Du in der Band THE PANTHER MODERNS gesungen, ein Name, der William Gibson’s Roman ‚Neuromancer‘ entliehen ist. Warum ausgerechnet dieser Name? Wie ist Deine Verbindung zu William Gibson?

 

Den Namen zu verwenden war die Idee von John Karr, mit dem ich zusammenarbeitete – John Karr schrieb die Musik und spielte die abgefahrenen, superben Gitarren auf dem Panther Moderns-Album. Gibson war damals schon ein Freund, mit dem ich gemeinsam einige Romane und Kurzgeschichten verfaßt habe, und natürlich bewunderte ich seine Art zu schreiben. Damals war ich selbst ein Cyberpunk-Autor – der Roman Stadt geht los! und die Eclipse-Trilogie zählen gewiß dazu - , jedoch war Gibson das Herz und die Seele des Cyberpunk, und inhaltlich waren die Panther Moderns sehr häufig Cyberpunk. Das Gefühl in der Musik – obgleich nicht zwangsläufig Electronica – erschien mir stets futuristisch.

 

 

Mancherlei Aspekt der PANTHER MODERNS-Zeit – insbesondere der Song (und das lyrische Meisterwerk) ‚Mountain Of Skullz‘ – erinnert mich dezent an die Art von Musik, wie sie JAMES RAYS GANGWAR und die SISTERS OF MERCY in den frühen 90er Jahren aufnahmen. Hast Du eine künstlerische Verbindung zu europäischem Post-Goth-Rock dieser Jahre?

 

Gewiß habe ich die Sisters Of Mercy gehört, so wie ich zuvor Bauhaus gehört habe. Und ich habe mir viele andere Goth-Bands angehört. Der tiefe, sinnliche und düstere Gesang bei den Sisters Of Mercy hat viele Künstler beeinflußt, und fraglos habe auch ich daran angeknüpft. Die Sisters waren auch eine Cyberpunk-Band – zumindest hat es für mich diesen Anschein - , und ich erinnere mich, daß William Gibson und Bruce Sterling - während sie auf Tour waren, um ihren gemeinsam geschriebenen Roman ‚Die Differenzmaschine‘ zu signieren – häufig die Sisters Of Mercy hörten; als eine Art ‚Soundtrack‘, wie Sterling mal erwähnte.

Die Sisters Of Mercy hatten einen Sound, der in gewisser Weise sowohl futuristisch als auch schwermütig war. Sie zelebrierten gleichzeitig die Überwindung und die Akzeptanz des Todes.

 

 

Deine Songtexte sind teilweise erzählerisch, teilweise abstrakt, sie gleichen von Deiner Stimme angetriebenen Ausbrüchen und sind oftmals angefüllt mit sehr klaren politischen Kommentaren; außerdem scheinen Deine Texte viele autobiographische Elemente zu enthalten. Würdest Du sagen, daß Du als Lyriker eine Art Beobachter dessen bist, was in Deinem Heimatland – im politischen Sinne - vor sich geht, und daß Du außerdem ein Betrachter von Kunst und Literatur und dessen bist, was sich in Deinem Privatleben ereignet und verändert?

 

Ich bin zumeist geneigt, das Politische im Hintergrund zu belassen, aber von Zeit zu Zeit habe ich einfach etwas zu sagen. Wie z.B. im Song 200.000 Homeless Children, weil ich wütend war über die große Anzahl obdachloser Kinder in den USA, und ich mußte diese Wut zum Ausdruck bringen. Ich wollte wenigstens versuchen, das Bewußtsein der Menschen hierfür zu sensibilisieren.

Wenn ich den Text When Irony Rules The Land singe, dann bedeutet dies vielerlei, aber prinzipiell beschreibt der Text meine Beobachtung, daß viele Menschen durch Ironie einer Art von Distanziertheit anheimfallen, wodurch sie sich auf den Zynismus zurückziehen – so zumindest erscheint es mir. Also mache ich mich darüber lustig.

Nun bin ich nicht auf jene unerbittliche Weise politisch wie beispielsweise die Dead Kennedys oder Rage Against The Machine, ist das Gefühl allerdings stark genug, dann bin ich’s doch. Daraus ergeben sich dann Songs wie ‚The Thing That Lives In Washington‘.

Wie auch immer, es interessiert mich, künstlerisch Stellung über Gefühlszustände zu beziehen, wie ich außerdem daran interessiert bin, eine Art von metaphysischer Transzendenz aufzuzeichnen.

 

 

Deine Art zu Singen ist sehr präsent, sehr ausdrucksstark – scheinbar schon von Beginn an. Ich habe den Eindruck, als wärest Du wie geschaffen dafür, um auf der Bühne zu stehen, zu spielen, etwas darzustellen. Woher kommt diese Energie, dieses Selbstbewußtsein?

 

Es geschieht einfach – auf der Bühne werde ich zu einer anderen Person. Nicht, daß wir nicht alle in gewissem Sinne Darsteller wären… Ich bin mir jedoch der Rolle, die ich auf der Bühne spiele, durchaus bewußt, und damit diese Rolle etwas ausstrahlt, etwas vermittelt, jenes fast Schamanistische erschafft, muß ich mich in eben diesen Zustand versetzen, ich muß zu dem werden, was ich darstelle. Die Musik erzeugt diesen Zustand. Ich gebe mich der Musik völlig hin.

 

 

Dein Song No Apologies To Kafka ist eine typische Spoken-Words-Performance – sehr emotional, sehr spannend und faszinierend; ein wenig in der Art von Henry Rollins, nur eben großartiger. Könnte dies ein Weg sein, Dein musikalisches Werk mit Deiner literarischen Arbeit zu verknüpfen?

 

No Apologies… ist eine Geschichte, gar keine Frage. Und natürlich sind zahlreiche Rock-Lyrics letztlich Geschichten, selbst für einfachste Rock-Texte trifft dies zu. Chuck Berry hat ständig Geschichten erzählt. Aber ich neige dazu, tiefer in diese Materie vorzudringen, das liegt in meiner Natur. Einige der Songs, die ich für Blue Oyster Cult geschrieben habe – wie z.B. Live For Me und The Power Underneath Despair – sind vollständige Geschichten: mit einem Anfang, einem Mittelteil und einem Ende. ‚No Apologies To Kafka‘ ist eine SF-Horror-Story – ich habe zahlreiche Horror- und Noir-Erzählungen/-Kurzgeschichten verfaßt – mit einem musikalischen Hintergrund: Hier lese ich eine kurze, aber schreckenserregende Erzählung. Es ist also nicht wirklich Gesang, aber es hat einen gewissen Rhythmus. Und es ist definitiv eine Brücke zwischen meiner Literatur und meiner Musik.

 

 

No Apologies To Kafka erscheint mir ein wenig wie Kafkas Der Prozeß – transformiert in 90er-Jahre-Literatur –, und gleichzeitig hat dieser Text etwas absolut Zeitloses . Ist Franz Kafka ‚nur‘ eine Metapher für Dich – oder beschäftigst Du Dich eingehender mit seinem Werk?

 

Ich kann nicht sagen, ob ich mich wirklich intensiv mit seinem Werk auseinandergesetzt habe, aber ich habe meinen Teil davon gelesen. Der Prozeß, gewiß. Er schrieb nicht nur über Politik, er schrieb über das existenzielle Dilemma des Lebens. Er schrieb darüber, daß wir das merkwürdige gesellschaftliche und existenzielle Labyrinth, in welchem wir uns befinden, nicht einfach akzeptieren dürfen. Er wollte, daß wir es infragestellen, es verurteilen. Ich kann mich damit durchaus identifizieren.

 

 

Wenn Du Song-Texte für andere Bands/Musiker schreibst, verfaßt Du diese Texte so, daß sie speziell zu diesen Künstlern passen, oder verhält es sich eher wie: „Ihr wollt John Shirley also bekommt ihr auch John Shirley!“?

 

Ein bißchen von beidem. Meine Texte werden immer eine John-Shirley-Stimmung beinhalten. Ich könnte vermutlich keinen Text für eine Band schreiben, die ich nicht mag oder zu der ich keine Beziehung herstellen kann. Aber ich bin außerordentlich flexibel, und ich bin geneigt, von mir als Profi zu denken – und dies setzt einen gewissen Eklektizismus voraus. Als ich für Blue Oyster Cult schrieb habe ich versucht, in angemessener Weise für sie zu schreiben. Allerdings dürfte es unvermeidbar sein, daß dies auf meine ganz und gar eigene Weise geschah.

 

 

Der Song Broken Mirror Glass enthält – zumindest für mich – Deinen  berührendsten Songtext. Er erscheint mir autobiographisch – liege ich diesbezüglich richtig?

 

Der Text ist einerseits autobiographisch, handelt jedoch andererseits von einer fiktiven Figur, einer Art ‚trailer park‘-Person. Tatsächlich hatte ich mal eine Freundin, die völlig durchdrehte und einen Spiegel zerschlug, woraufhin ich ziemlich verwirrt meine eigenen Abbilder in den Spiegelscherben betrachtete. Und dies inspirierte mich zu dem Songtext. Es geht darin um das Gefühl nicht wahrhaftig in der Lage zu sein, sich emotional völlig auf einen anderen Menschen einlassen zu können; vielleicht auch darum, diesem Menschen nicht vertrauen zu können. Es geht um das Verlangen nach unverfälschter Liebe. Es geht um vollkommenes Vertrauen. Beides sind ganz normale zwischenmenschliche Probleme. Ich mußte lernen damit klarzukommen, wenn ich z.B. eine intime Beziehung zum Publikum herstellen wollte, während ich auf der Bühne stehe. Ich war zwar in der Lage sexuelle Beziehungen einzugehen, aber allzu oft gab es nicht diese andere, tiefere Ebene der Nähe, der Vertrautheit. Es entsteht eine gewisse Art von Vertrautheit, wenn man auf der Bühne steht und eine Verbindung mit dem Publikum eingeht… aber ich wollte dies auch in meinem Privatleben erreichen. Und letzten Endes ist mir dies auch gelungen.

 

 

 Andrea´s Art School Fun ist – entschuldige bitte – in der Tat ziemlich lustig, wenngleich auf bittersüße Weise. Die Situation, die Du in dem Text beschreibst, ist derart absurd, und der Typ benimmt sich unfaßbar… hilflos. Natürlich hat Andrea den Kerl erwartungsgemäß niedergeschossen. Es mag eine nicht gar so gescheite Frage sein, aber – wie zur Hölle fallen Dir solche Geschichten ein?

 

Der Humor darin ist beabsichtigt. Morbider Humor, ätzender Humor, wie ich hoffe. Die Geschichte in dem Song erwuchs selbstverständlich aus einem Gefühl der Schuld heraus! Ich war mehrere Male verheiratet, hatte viele Geliebte und ich fühlte, daß ich einige Herzen gebrochen habe. Ich hatte Schwierigkeiten damit, monogam zu sein – kein Problem, welches nur mich betrifft, allerdings habe ich mich damals wirklich unschön verhalten –, und das hat mich fertiggemacht. Ich mag es nicht, irgendwem gegenüber unehrlich sein zu müssen. Als ich älter wurde, wurde ich mehr und mehr sensibilisiert für Aufrichtigkeit. Irgendwie benutze ich in dieser Geschichte schwarzen Humor dafür, um mich selbst für meine Unzulänglichkeiten zu bestrafen, als Rückblick auf die Zeit in meinem Leben, als ich dazu neigte, unaufrichtig zu sein.

 

 

Du hast den Song Heart So Black gemeinsam mit Deinem Sohn Julian geschrieben. Wie ist es, mit Deinem Sohn zusammenzuarbeiten?

 

Er hat es geschafft, mich gut klingen zu lassen. Julian – als HipHop-Künstler unter dem Namen Juji bekannt – ist ein talentierter junger Mann, der sich bestens mit Beats und Atmosphären auskennt, und wenn er seine eigenen Lyrics schreibt, so sind diese intelligent, eindringlich und lustig. Und natürlich nehmen einen die eigenen Söhne niemals so ernst wie man es gern hätte. Sie sind unfaßbar schwer zu beeindrucken, denn sie sehen ihre Eltern so häufig, daß ihnen deren lächerlichen und dürftigen Eigenschaften nur allzu vertraut sind. Aber er hat mir dennoch etwas von seiner Zeit gegeben. Und er hat vieles von meiner Musik mit Leuten im Netz ausgetauscht. Ich erinnere mich, wie er diesen Leuten ‚Johnny Paranoid‘ und ‚Essence‘ vorspielte, was mir viel Aufmerksamkeit bei Menschen seines Alters eingebracht hat. Also ist er vielleicht doch mehr beeindruckt, als er es sich anmerken läßt.

 

 

Heart So Black ist musikalisch eher Synthesizer-basiert. Könnte dies der zukünftige Sound von John Shirley sein?

 

Ich habe keine Ahnung, ich mag diesen Song, aber ich möchte künftig häufiger live auftreten, und was auch immer live funktioniert wird der zukünftige Sound von John Shirley sein.

 

 

Du bist in erster Linie bekannt für Dein literarisches Werk, oder um genauer zu sein – als Verfasser von Science Fiction- und Cyberpunk-Literatur. Auch Deine Songtexte sind m.E. angefüllt mit Aspekten und Referenzen der SF-Literatur – im Sinne einer abstrakten Ebene - , und manch einer Deiner Kollegen (z.B. Michael Moorcock und George R. R. Martin) sind ebenso verbunden mit Rock-Musik. Denkst Du es besteht eine Affinität zwischen SF-Literatur und Rock-Musik?

 

Ich glaube schon. Ich weiß, daß Michael Moorcock ein Songwriter (mit Hang zum Folk-Rock) gewesen ist, als er jung war. Er hat sogar ein Album veröffentlicht. Und er hat nicht nur mit Blue Oyster Cult zusammengearbeitet, sondern auch mit Hawkwind. Die Bildsprache bei Hawkwind ist kontinuierlich Science Fiction-mäßig. Ich weiß nicht, ob meine Songtexte ebenso damit angereichert sind, aber man mag es darin entdecken. Über SF hinaus bin ich beeinflußt von besseren Horror-Thematiken und von Cross-Over: Horror Science Fiction, Dark Fantasy. Ebenso von Noir-Schriftstellern wie Hammett und Chandler und von Noir-Filmen… Folglich greift Genre-Schriftstellerei zurück auf alles, was kulturell vor sich geht. Philip K. Dick schöpfte aus allem, was immer ihn umgab; und Lyriker wiederum bedienen sich bei Philip K. Dick. Sein Roman ‚Der dunkle Schirm‘ beschreibt, wie wir unsere Welt wahrnehmen…

 

 

In einigen Deiner Erzählungen und Romane – insbesondere in Wölfe des Plateaus, Stadt geht los und in der Eclipse-Trilogie – meine ich einen ganz besonderen Rhythmus erspüren zu können; es fühlt sich an wie ein Beat, wie ein Baß-Lauf, der Deine Texte unterschwellig begleitet. Liege ich richtig mit dieser Vermutung?

 

Ja, ich höre viel Musik während ich schreibe, und ganz bewußt lasse ich den Klang, die Atmosphäre, den Rhythmus in das Geschriebene einfließen. Ich versuche Musik auszuwählen, die zu dem paßt, was ich gerade schreibe, zumindest soweit es die musikalische Stimmung betrifft. Ich wurde beeinflußt von Patti Smith und Blue Oyster Cult, während ich Stadt geht los schrieb (tatsächlich existiert ein Song mit dem Titel City-Come-A-Walkin´, allerdings besitze ich keine Kopie davon – irgendwo muß jedoch eine Kassette herumliegen!)… Als ich Wölfe des Plateaus schrieb hörte ich – wie ich glaube – einiges von Kraftwerk, aber zumeist hörte ich die Sisters Of Mercy. Eclipse-Trilogie – dabei hörte ich Bands wie Bauhaus, The Velvet Underground, verschiedene Punk-Rock-Bands, Electronica-Bands… Rolling Stones… und ich versuche, mittels meiner Prosa in gewisser Weise Rock-Energie zu erzeugen… Es gibt eine Methode, einen dramatischen Text zusammenzusetzen, die vergleichbar ist mit der intuitiven Wirkung des Rock…

 

 

Im Jahr 1981 hast Du gemeinsam mit William Gibson die Kurzgeschichte Zubehör verfaßt – diese Kurzgeschichte erscheint mir eine Art Kreuzung zwischen Science Fiction-Text und moderner Horror-Literatur zu sein, die Stimmung in ihr ist m.E. vergleichbar mit der in Deinem noch immer umwerfenden Roman Kinder der Hölle (welcher erstmals im Jahr 1982 veröffentlicht wurde, wenn ich mich recht entsinne). Wie kam es überhaupt zur Zusammenarbeit mit William Gibson? Wie siehst Du diese Zusammenarbeit rückblickend?

 

Von mir stammt der erste Entwurf jener Kurzgeschichte, ich zeigte sie Gibson, sie gefiel ihm, aber er wollte dem Text seinen speziellen ‚Glanz‘ hinzufügen, wie er es nannte. Er wollte ihn durch den Gibson-Filter schicken, was er auch tat und wodurch er die Geschichte verbesserte. Mir gefiel diese Zusammenarbeit, denn er ist ein so großartiger Schriftsteller, was mir von dem Moment an bewußt war, seit ich seine Erzählung Der mnemonische Johnny als Manuskript gelesen habe. Zubehör ist eine gute Geschichte, die durch sein Zutun erst herausragend wurde.

 

 

Im Jahr 2012 hast Du den Near-Future-Roman Black Glass (untertitelt mit ‚The lost Cyberpunk novel‘) veröffentlich. Ursprünglich hast Du auch diesen gemeinsam mit William Gibson zu schreiben begonnen, aber ihr habt den Roman nie beendet. Was ist geschehen?

 

Gibson und ich haben Black Glass beendet, aber wir schrieben ihn nicht als Roman, sondern als Drehbuch. Nun, in den frühen 80er Jahren saß ich mit Bill Gibson in meinem Apartment in West Hollywood herum, und bei uns war ein gewisser Regisseur, dem vielen Ideen im Kopf herumschwirrten. Und es waren nicht nur Ideen, die dort kreisten. Wir unterhielten uns darüber, aus der Kurzgeschichte Chrom brennt – eine Kurzgeschichte, die mehr Cyberpunk war als irgend etwas sonst – in ein Drehbuch umzuschreiben, und meine bleibende Erinnerung ist, wie häufig sich besagter Regisseur entschuldigte und im Bad verschwand, um anschließend schniefend, zitternd und mit schlagartig gesteigertem Größenwahn wieder aufzutauchen. Neben der Adaption der Kurzgeschichte schlug ich ihm ein Skript vor, welches damals den eher langweiligen Titel Macrochip trug und aus einigen Sessions mit Bill Gibson hervorgegangen war (Peter Wagg, der Produzent von Max Headroom hatte eine Option auf dieses Skript). Und ich entsinne mich, daß der Regisseur, der sich sehr in Macho-Gehabe gefiel, sagte: „So lang das Skript verdammt dicke Eier hat…!“

Er hat unser Skript nicht verwendet, auch bezüglich Macrochip hat er sich nie wieder bei uns gemeldet, und Gibson’s Karriere ging anschließend durch die Stratosphäre (Gibson hat’s verdient wegen seines Talents und seines Fleißes). Bald darauf war er damit beschäftigt – sagen wir – 'Mick und Keith‘ bei der Gestaltung ihrer Bühne für eine Welt-Tournee zu helfen, er hatte einfach keine Zeit mehr und… wir haben mit der Story niemals irgendwas angefangen. Ende der 90er Jahre begann ich damit, das Drehbuch zu einem Roman umzuschreiben, dem ich den Titel Black Glass gab, aber damals hatte mein Schreiben einen Schritt zur Seite getan und entwickelte sich mehr in Richtung Urban Fantasy – ich dachte nicht mehr auf Cyberpunk-Weise.

Aber im vergangenen Jahr, als ich mir anschaute, wo mein Platz war in dieser Welt, kam mir Black Glass wieder in den Sinn, und ich war sehr inspiriert, den Roman zu vollenden – weil Black Glass die Technologie als Metapher, die von Tag zu Tag klarer wird, benutzt.

 

 

Black Glass beschäftigt sich eingehend mit Fragen der Realität und der Identität – eigentlich eine geradezu klassische Phil-Dick-Thematik, und es hat beinahe den Anschein, als hättest Du Aspekte des Cyberpunk sowie eine Hommage an Phil Dick mit typischen John-Shirley-Zutaten kombiniert. Entspricht ‚Black Glass‘ der Vorstellung: John Shirley lehnt sich zurück in seinem Sessel und schreibt über all die Dinge, die ihm an Science Fiction gefallen, während er THE STOOGES hört?

 

Die meisten modernen Science Fiction-Autoren wurden von Philip K. Dick beeinflußt. Ich bin diesbezüglich keine Ausnahme, da bin ich sicher. Aber ich war schon immer an der Idee von der ‚Realität hinter der Realität‘ interessiert, an der Manipulation der Wirklichkeit, wie sie die Technologie ermöglicht. Vermutlich habe ich die Stooges gehört, als ich das Buch schrieb. Außerdem hörte ich Rammstein – ich verstehe kaum Deutsch, was recht nützlich ist, denn so lenken mich die Song-Texte nicht ab und ich kann die Energie der Songs absorbieren.

 

 

 Hast Du noch Kontakt zu Deinen Cyberpunk-Kollegen?

 

Ja, mit allen. Rudy Rucker treffe ich regelmäßig, da er auch im Bay Area lebt, und beide hielten wir Vorträge in Brüssel (Ted-X). Dort besuchten wir auch die Bar, in welcher sich seinerzeit die Surrealisten versammelt haben. Ich bewundere Rudy’s Einfallsreichtum, und wir haben zusammen ein paar Kurzgeschichten geschrieben – besonders bemerkenswert sind diesbezüglich wohl die story pockets.

Und manchmal verkracht man sich mit dem einen oder anderen, aber wenn diese dann erwachsener werden wird ihnen klar, was wirklich wichtig ist, und dann redet man auch wieder miteinander.

 

 

Ende 2012 hat Victoria Blake die Anthologie Cyberpunk (mit dem schönen Untertitel ‚Stories Of Hardware, Software, Wetware, Revolution And Evolution‘) veröffentlicht, in welcher die Essenz der Cyberpunk-AutorInnen und ihre – hoffentlich – signifikantesten Kurzgeschichten/Erzählungen dieser literarischen Periode versammelt sind. Darunter: Deine Erzählung Wölfe des Plateaus, die im Laufe der Zeit ein Cyberpunk-Klassiker geworden ist (auch in Europa). Ist dieser Text noch immer relevant für Dich (künstlerisch und persönlich)?

 

Ich glaube, Wölfe des Plateaus ist meine ‚essenziellste Cyberpunk-Erzählung‘ – ich habe sie auch in die Eclipse-Trilogie integriert. Sie ist noch immer relevant, denn es geht darin um Menschen des ‚Demimonde‘, Menschen aus der Halbwelt, um alternative Lebensweisen, um Menschen, die auf die falsche Seite einer repressiven Gesellschaft fallen und dort ihre auf der Straße erlernten cyber skills dazu benutzen, dieser Falle zu entgehen.

 

 

Mein erster ‚John-Shirley-Moment‘ war die Lektüre des bereits genannten Romans Kinder der Hölle, und gleichzeitig war dies auch der erste ‚moderne‘ Horror-Roman, den ich bis dahin gelesen hatte – das dürfte ungefähr 1984 gewesen sein. Damals war ich gerade 15 Jahre alt, und während ich das Buch las, lief es mir eiskalt den Rücken herunter…

 

Dann habe ich erreicht, was ich wollte. Es existiert mittlerweile eine neue, verbesserte Version des Romans, die ich zudem um einen neuen Epilog ergänzt habe, erschienen bei Infrapress – man sollte das Buch problemlos via amazon.com finden können.

 

 

Erinnerst Du Dich daran, wie Kinder der Hölle entstanden ist?

 

Wie entstand ‚Kinder der Hölle‘…? Ich lebte damals in New York City und war schwer beeindruckt von den Subways, den U-Bahn-Schächten und den Menschen von der Straße, die in ihnen dahinvegetierten; die Subways hatten ihre ganz eigenen Anzeichen von Moder und Zerfall und ganz eigene Kreaturen, die dort lebten. Mit ‚Kreaturen‘ meine ich nicht die Obdachlosen, sondern die riesigen Ratten und Kakerlaken – und wer weiß was sonst noch. Etwa zur gleichen Zeit wurden die USA ergriffen von einer dekadenten Geldgier, also habe ich diese beiden Elemente zusammengeführt und daraus ‚Kinder der Hölle‘ synthetisiert. Mich haben stets geheime, versteckte Orte unter der Oberfläche der Stadt oder des Planeten interessiert.

 

 

 

Wie reagieren Deine Leser auf die überarbeitete Version von Kinder der Hölle und insbesondere auf den neuen Epilog?

 

Ich hatte diesen Epilog bereits 1982 – als ich die erste Fassung des Romans schrieb und veröffentlichte – erwogen. Aber damals entschied ich mich für das schockierendste, dunkelste Ende. Erst später beschloß ich, es durch eine Art Hoffnungsschimmer abzumildern. Den Leuten scheint diese neue Version besser zu gefallen.

 

 

Dein Hauptwerk ist wohl die Eclipse-Trilogie, die ursprünglich in den Jahren 1985 bis 1990 geschrieben und veröffentlicht und erst kürzlich in einem Band zusammengefaßt (und wiederum: überarbeitet) unter dem Titel A Song Called Youth in den USA wiederveröffentlicht wurde. Was steckt hinter dieser literarischen Vision? Wie hat sich dieses Werk entwickelt und verändert seit der ersten Idee? Ist diese Trilogie noch immer von Bedeutung für Dich?

 

Ich weiß nicht, ob es mein Hauptwerk ist, aber es ist mein größte und mein umfangreichste Arbeit. Für diese neue Version habe ich die Geschichte kaum verändert, ausgenommen hinsichtlich einer kleinen Szene, die deutlicher das Entkommen unserer Helden – der Neuen Resistance – erklärt. Die Prosa als solche wurde überarbeitet, verbessert und ein wenig aktualisiert. Aber die Trilogie blieb immer relevant. ‚A Song Called Youth‘ resp. die Einzelbände ‚Eclipse‘, ‚Eclipse Corona‘ und ‚Eclipse Penumbra‘ warnen davor, daß der Faschismus an jeder Ecke lauert; institutioneller Rassismus kann jederzeit wiederkehren wenn wir nicht achtgeben und die Vergangenheit vergessen. Und der Roman warnt davor, daß es die Verzweifelten sind, die zum Gegenstand von Manipulation werden. Was also könnte heutzutage bedeutsamer sein?

 

 

Dein Roman Stadt geht los aus dem Jahr 1980 wird als ‚Proto-Cyberpunk-Roman‘ bezeichnet. Also warst Du es, der den Verfassern eher traditioneller Science Fiction auf die Sprünge geholfen hat?

 

Nun, der Roman enthält Cyberpunk-Elemente wie z.B. die Bildsprache und den Erfahrungsschatz der Straße, beinhaltet frühe Zukunftsprognosen kommender Technologien, hat diesen gewissen urbanen Beigeschmack – aber gleichzeitig ist er auch ein Roman des Magischen Realismus. Er enthält Fantasy-Elemente. Er verwendet Jung’sche Ideen – ich bin jedoch nicht sicher, ob Jung dieser Verwendung durch mich zustimmen würde – und erweitert sie in Richtung Fantasy. Die Stadt erwacht durch ihr eigenes, kollektives Bewußtsein zum Leben… und das war wirklich ein unheimlicher Einfall. Ich glaube, dies hat einige Leute beeinflußt. In mancherlei Hinsicht zeigte der Roman meine Jugendlichkeit, was nicht zwangsläufig ein großer Vorteil sein muß. Aber das ist okay… es hat sich gut ergänzt. Es kommen auch Rock’n’Roll-Charaktere darin vor, und irgendwie paßt das bestens zur Energie des Cyberpunk. Auch dies war innovativ. Aber der wirkliche Cyberpunk kam ebenso durch den Einfluß von Philip K. Dick, Cordwainer Smith, Alfred Bester, Samuel Delany und dem späten John Brunner zustande…

 

 

Im Jahr 2011 hast Du die Story-Sammlung In Extremis veröffentlicht, die Kurzgeschichten zusammenfaßt, welche Du in den Jahren 1991 bis 2010 geschrieben hast. Würdest Du sagen, dies ist Deine essenzielle Story-Sammlung? Und warum genau hast Du diese 22 Kurzgeschichten ausgewählt?

 

In Extremis ist untertitelt mit ‚Die extremsten Geschichten von John Shirley‘, und genau das sind sie auch – extreme Geschichten, wahrhaftig schockierend für das Nervensystem oder das Feingefühl der Menschen (auf die eine oder andere Weise). Ich konnte nicht all meine extremen Geschichten in dem Buch unterbringen, und viele davon hatten ohnehin bereits genug Aufmerksamkeit in ‚Black Butterflies‘ und Living Shadows, folglich wählte ich eher die neuesten Geschichten aus. Allerdings sind tatsächlich einige für die Leute nur schwer zu ertragende Storys darin enthalten. Für Personen unter 18 Jahren würde ich das daher Buch keinesfalls empfehlen. Teilweise basieren die Geschichten auf meinen eigenen Erfahrung; die meisten drücken auf meine Art das Dilemma der menschlichen Existenz aus, vieles von der dunklen Seite dieser Existenz – eine Poesie des Extremen…

 

 

Worin besteht der größte Unterschied zwischen In Extremis und – sagen wir – Hitzefühler‘?

 

Hitzefühler war meine erste Sammlung von Kurzgeschichten, dementsprechend enthält sie meine eher jugendlichen Schriften, Frühwerke… und – obgleich darin Schock-Momente zu finden sind – Hitzefühler war nicht als Abfolge von Schocks konzipiert; stattdessen ist dieses Buch einfach ich, der Gitarren-Soli spielt – in Form von Kurzgeschichten…

 

 

Du bist ein außerordentlich profilierter Schriftsteller – was liegt Dir mehr am Herzen: das Schreiben von Kurzgeschichten oder das Schreiben von Romanen?

 

Beides ist sehr verschieden. In gewisser Hinsicht sind Kurzgeschichten leichter, jedoch benötigen sie einen exakten Focus. Einen Roman zu vollenden bereitet mir ungeheures Vergnügen, aber – wie Stephen King sagte – einen Roman zu schreiben ist wie an einem Marathonlauf teilzunehmen, und dafür muß man „in Form‘ sein, fit, und bereit für schmerzende Beine. Es ist eine lange Strecke. Aber es hat ein gewisses orchestrales Gefühl, das ich sehr mag. Um wieder einmal den Vergleich zur Rock-Musik zu bemühen: ein Roman ist wie eine Rock-Oper; eine Kurzgeschichte entspricht eher einem einzelnen Song.

 

 

Du bist auch sehr aktiv als Autor von Drehbüchern für Kino- und TV-Filme. Wie ist es dazu gekommen?

 

Ich wurde schon immer von filmischer Bildsprache (und jener des TVs) beeinflußt. Es dürfte schwierig sein in Amerika einen Genre-Schriftsteller zu finden, der nicht von The Twilight Zone‘ oder von Alfred Hitchcock’s TV-Serien (und seinen Filmen) beeinflußt wäre. Außerdem saugte ich The Outer Limits, The Prisoner und natürlich Star Trek geradezu in mich auf. Ich war hoch erfreut, eine Episode von Deep Space Nine schreiben zu dürfen, schließlich liebte ich Star Trek, als ich 12 oder 13 Jahre alt gewesen bin. Wenn ich Prosa schreibe, denke ich zumeist szenisch, und meine Bücher sind ausgesprochen filmisch aufgebaut. Mein Roman Demons war mehrfach für eine Verfilmung vorgesehen (und wäre beinahe auch realisiert worden, aber dann kam die Rezession – und das war’s einstweilen). Ich wurde beeinflußt von Filmemachern wie Nicholas Roeg, John Ford, George Pal, Stanley Kubrick, Hitchcock, Robert Wise, Federico Fellini, Lina Wertmüller, Fritz Lang, Todd Browning, James Cameron, Bergmann, von allerlei Noir-Regisseuren – einfach zu viele, als daß ich sie auflisten könnte. Bildsprache war stets mein Ding. Ich will in den Köpfen meiner Leser Bilder erzeugen. Dementsprechend fühlte ich mich seit jeher angezogen von Film und Fernsehen.

 

 

Du hast das Drehbuch zu The Crow geschrieben, der insbesondere in Europa als Kult-Film gehandelt wird. Was kannst Du über dieses Projekt erzählen?

 

Ich entdeckte das Comic-Buch The Crow von James O’Barr und gab es meinem Freund Jeff Most, der damals noch ein junger Produzent gewesen ist. Jeff – mit mir im Schlepptau - erwarb die Rechte von O’Barr, und gemeinsam begeisterten wir Ed Pressman dafür, der das Projekt sodann den großen Film-Studios vorschlug. O’Barr’s Comic zog mich in seinen Bann, denn er war für sich genommen bereits eine Art Film – und er war wie eine moderne, rockige Version von Batman und Zorro (freilich mit einer übernatürlich Wendung), und ich mag solche Geschichten. Und O’Barr’s Stil ist ungemein inspirierend. Ich schrieb also die ersten vier Versionen des Drehbuchs, dann kam David S. Schow hinzu, und er schrieb seine eigene. Alex Proyas ist ein sehr talentierter Regisseur. Allerbeste Vorraussetzungen also. Nicht so gut war natürlich, daß das Produktions-Team nicht vorsichtig genug gewesen ist und Brandon Lee, der Hauptdarsteller, kurz bevor der Film fertiggestellt war  versehentlich getötet wurde.

Erst kürzlich schrieb ich eine The Crow-Graphic-Novel für IDW Comics, die jetzt erhältlich ist. Sie trägt den Titel The Crow: Death And Rebirth und spielt im Japan einer nicht allzu fernen Zukunft – darin überschneiden sich übernatürliche Elemente mit ein wenig Cyberpunk.

 

 

Hast Du jemals erwogen, die Eclipse-Trilogie zu einem Drehbuch umzuschreiben?

 

Würde ich mich Vergnügen tun – und es gab Leute, die versucht haben, die Rechte an HBO und andere zu verkaufen – aber letztlich erschienen ihnen die Bücher als zu düster und zu politisch, wie ich vermute. Bislang habe ich den enormen Zeitaufwand, den eine solche Adaption mit sich bringen würde, immer gescheut, aber – wer weiß? – wenn’s mal ein gutes Angebot gibt…

 

 

Dein außergewöhnlichstes literarisches Werk ist das Buch Gurdjieff – An introduction to his Life and Ideas. Wie ist dieses Buch entstanden? Und wie erklärt sich Deine Verbindung zu Gurdjieff und zu seinen Lehren?

 

Mein Leben lang habe ich mich für Spiritualität interessiert, angefangen mit den Transzendentalisten wie Emerson, gefolgt von Allan Watts und den Lehrmeistern des Zen. Seit ich denken kann glaube ich daran, daß wir tatsächlich schlafen wenn wir denken, daß wir wach sind; daß wir mechanisch in unseren Reaktionen sind und so lange maschinenähnlich bleiben werden, bis wir nach wahrer Existenz und höherem Bewußtsein streben. Und mir war immer schon gegenwärtig, wie relativ Bewußtsein ist. Dies entspricht ganz genau Gurdjieff’s Vorstellungen, wie ich später entdeckte, und diese Verbundenheit war es, die mich anzog. Ein Verlag bot mir an, ich solle ein Buch über ihn schreiben, also schrieb ich eine Einführung in sein Leben und seine Gedanken. Auf diese Weise konnte ich zugleich seine Ideen tiefer ergründen, und im Verlauf der Recherchen habe ich diese zutiefst schätzen gelernt. So bietet er spezifische Methoden an, die ich als sehr hilfreich empfand. Wie ich bereits erwähnte hatte ich zeitweise Probleme mit Abhängigkeiten, und seine Methoden, das Bewußtsein und Dasein zu erhöhen, halfen mir dabei, mich innerlich von meinen Abhängigkeiten zu befreien. Seine Vorstellungen sind vergleichbar mit einigen anderen esoterischen Studien… beispielsweise mit gewissen Formen des Gnostizismus. Meine Romane Demons und The Other End beziehen sich in dezentem Ausmaß auf diese Ideen.

 

 

Welches sind Deine aktuellsten Projekte? Und was können wir in Zukunft von Dir erwarten?

 

Mein neuester Roman ist Everything Is Broken, eine Art Noir-/Katastrophen-/Near Future-Roman, der wiederum eine politische Metapher ist. Wie auch die Omnibus-Ausgabe von A Song Called Youth ist er bei PrimeBooks erschienen. Soeben wurde mein neues Buch ‚New Taboos‘ veröffentlicht, welches eine Novelle mit dem Titel State Of Imprisonment enthält, im Grunde eine Erzählung die in einer nahen Zukunft spielt, in welcher der vollständige Staat Arizona in ein privates Gefängnis umgewandelt wurde. In gewisser Hinsicht ist das Cyberpunk. Ferner enthält das Buch zwei Essays nebst einem Interview mit mir. Es ist Teil der Serie Outspoken Books des Verlags PM Press – in derselben Serie erschienen auch Bücher von Michael Moorcock und Ursula K. Leguin.

Mein nächster Roman Doyle After Death wird bei HarperCollins erscheinen. In ihm geht es um den Schöpfer der ‚Sherlock Holmes‘-Geschichten und um einen amerikanischen Detektiv, die nun beide tot sind und im Jenseits Geheimnisse aufdecken…

 

 

Copyright © 2013/2017 by Apex-Verlag.

Das Interview führte Christian Dörge.