Kathe Koja. Photo © by Rick Lieder.
Kathe Koja. Photo © by Rick Lieder.

Ein Interview mit

KATHE KOJA

 

 

Kathe Koja ist ohne Frage eine der aufregendsten und vielseitigsten Schriftstellerinnen der Gegenwart: Sie debütierte mit dem Horror-Romanen The Cipher (1991, ausgezeichnet mit dem Bram-Stoker-Award und dem Locus-Award, nominiert für den Philip-K.-Dick-Award) und Bad Brains (1992), mit denen es ihr gelang, im besten Sinne des Wortes künstlerischen Horror mit einer bis dahin eher seltenen Härte und Intensität zu kombinieren.

Es folgten weitere Genre Werke – u. a. der Roman Skin (1993) und die herausragende Story-Sammlung Extremities (1997) – sowie diverse Jugendbücher wie The Blue Mirror (2004), bevor sich Kathe Koja schließlich auch dem Theater und der Performance-Kunst zuwandte: Vorläufige künstlerische Höhepunkte sind der Roman Christopher Wild (2017) sowie die Inszenierung der Bühnenstücke Doktor Faustus und Glitter King.

   Anlässlich der Veröffentlichung ihrer Romane The Cipher und Bad Brains im Apex-Verlag (als E-Books, Paperbacks und Hardcovers) führte Verleger Christian Dörge das folgende Interview mit der Autorin...

 

 

Christian Dörge: Worin unterscheiden sich die Kathe Koja der Gegenwart und jene Kathe Koja, die im Jahr 1991 den Roman The Cipher veröffentlicht hat?

 

Kathe Koja: Ich habe The Cipher Ende 1989 fertiggestellt; und während ich dies schreibe, geht das Jahr 2018 zu Ende. Dazwischen liegt viel Zeit: Und die Zeit begleitet mich durch zahlreiche persönliche Entwicklungen, sie hilft mir dabei, die Dinge zu verarbeiten, und sie ist der Ort, an dem ein Werk vollendet und schließlich der Welt zugänglich gemacht wird. Was meine persönlichen Unterschiede betrifft, so war The Cipher damals mein erster richtiger Roman, und Christopher Wild, mein aktuellster, ist mein erster Roman, der um einen real existierten Menschen herum konstruiert wurde. Ich versuche also immer noch dazuzulernen, und das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist: Die Zeit ist endlich, und ich werde daher nie in der Lage sein, alles zu schreiben, was ich mir erhoffe, also...

 

 

Christian Dörge: Wie würdest du den Schreibprozess von The Cipher beschreiben (hauptsächlich, weil es dein erster richtiger Roman war)? Gab es einen Punkt, an dem du den Eindruck hattest, die Arbeit nicht vollenden zu können?

 

 Kathe Koja: Der erste Durchlauf/der Proto-Cipher begann mit Nicholas, den ich bereits als Dichter beschrieben habe, aber seine Lebensumstände waren anders - diese Geschichte hatte nicht jene Kraft, die sie benötigte, mir war klar, dass irgendetwas fehlte. Als mir schließlich Idee vom Geisterloch kam, war ich auf dem richtigen Weg. Auf diese Weise habe ich mich von der ursprünglichen Version des Romans entfernt, die, aus welchem Grund auch immer - mangelndes Können, mangelndes Verständnis - niemals funktioniert hätte.

 

 

Christian Dörge: Existieren die verschiedenen Versionen des The Cipher-Manuskripts noch? Verwahrst du die einzelnen Arbeitsschritte/Manuskript-Versionen oder vernichtest du das, was nicht gut genug ist?

 

   Kathe Koja: Irgendwo liegt noch ein mit Anmerkungen versehenes Cipher-Manuskript herum - ich habe stets die letzte Papierfassung meiner Romane aufbewahrt, und heutzutage behalte ich die endgültige digitale Fassung. Und ich behalte die Notizen, obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, aus welchem Grund - vielleicht als Erinnerung an das Glück der Kreativität. Die Poppy-Bücher und Christopher Wild enthielten detaillierte moodboards, und auch diese habe ich aufbewahrt.

Die US-Ausgabe von THE CIPHER.
Die US-Ausgabe von THE CIPHER.

 

Christian Dörge: Würdest du The Cipher heute anders schreiben? Wenn ja... wie könnte der Roman heute aussehen?

 

   Kathe Koja: Vielleicht könnte ich heute ein Buch über ein Geisterloch schreiben, aber es wäre gewiss nicht Cipher. Als ich es vor einigen Jahren für die Veröffentlichung als E-Book noch einmal durchgelesen habe, stellte ich fest, dass sich die Achse des Buches sehr unterschiedlich drehte – meine Gefühle für Nakota und die Freunde von Malcolm hatten sich sehr verändert, und besonders deutlich war diese Veränderung hinsichtlich Nicholas spürbar. Aber die Interpretation der Charaktere durch den Leser hat ebenso Gültigkeit wie die des Autors, Charaktere und Interpretation sind so fließend wie die Zeit: Der Leser erschafft das Buch bei jedem Akt des Lesens neu.

Christian Dörge: Wenn du über deine Charaktere sprichst, hat es für mich den Anschein, dass sie für dich real sind und auch keineswegs nachlässig »konstruiert« wurden, was m. E. die Vermutung nahelegt, dass du sie nach Vollendung eines Romans nicht einfach vergisst. Wie dauerhaft sind deine Charaktere für dich? Auf welche Weise fühlst du dich mit ihnen verbunden?

 

Kathe Koja: Einige von ihnen... sind unauslöschlicher als andere, so wie du dich vielleicht um all deine Freunde kümmerst, aber nur wenige von ihnen wirklich liebst. In Bad Brains schätze ich die stets zornige Emily; in Kink die hartnäckige Sophie; in Going Under und Straydog Rachel und den unbezwingbaren Hilly; in der Poppy-Trilogie sind es Istvan und Rupert, Haden der street lieutenant und die mystische Tilde. Und natürlich liebe ich insbesondere Marlowe aus Christopher Wild, obwohl er - ganz im Gegensatz zu den Vorgenannten – im Grunde genommen keine literarische Figur ist.

 

 

Christian Dörge: Wie bewusst hast du dich dafür entschieden, The Cipher aus der Perspektive eines männlichen Protagonisten zu schreiben?

 

Kathe Koja: Meine ganze Arbeit beginnt mit einer Figur, ich sehe diese Figur vor mir, und die Geschichte folgt aus ihr; ich betrachte sie nicht als geschlechtsspezifische Stimme oder als eine Wahl, es geht darum, wer die Geschichte ist, wer sie erzählt, wer sie umgibt. Nicholas war derjenige für Cipher, Tess und Bibi waren diejenigen für Skin, Jess war derjenige für Kink, Marlowe ist derjenige für Christopher Wild.

 

 

Christian Dörge: Wie viel von deiner Lebenswirklichkeit und deiner Erfahrung findet sich in der Figur Nakota aus The Cipher wieder?

 

Kathe Koja: Abgesehen von all den Recherchen, die für ein Buch notwendig sind, kommt alles andere aus dem Unbewussten, vom Lesen, Sichten, Augen offen halten, vom Warten auf diesen inneren Ping. Das bedeutet: sei aufmerksam, benutze deine Sinne, das gehört dazu. Realität und Erfahrung sind sicherlich Teil davon - für Cipher oder irgendein anderes Buch -, aber welcher Prozess oder welche Ansammlung von Assoziationen hierbei am Werk sind (oder ob es sich um reines Talent handelt), nun, da bin ich vermutlich die Letzte, die es weiß.

 

Cover der Apex-Ausgabe von THE CIPHER.
Cover der Apex-Ausgabe von THE CIPHER.

 Christian Dörge: Glaubst du, es gibt viele Nakotas in der realen Welt?

 

Kathe Koja: Nakota ist der Reiz, aus dem die Perle entsteht, sie ist der Kies in der Ernte, ein Vermittler der Leere, der um Erfüllung kämpft. Bei Malcolm ist's ganz ähnlich, wenngleich er sich auf der Außenseite des Kreises befindet. Nakota indes lebt im Zentrum. 

 

 

Christian Dörge: Welche Eigenschaften benötigt eine Person, um ein Zentrum oder einen Kern ausfüllen zu können? Wenn es einen Kampf um Erfüllung gibt - kann dieser Kampf gewonnen werden? Könnte Nakota diesen Kampf gewinnen? Und wenn ja, wird sie sich weiterhin im Kern befinden (oder zum Kern werden)?

 

 

 Kathe Koja: Ich denke, Nakota ist durchaus in der Lage, den Kern, das Zentrum auszufüllen oder zumindest fleißig darauf hinzuarbeiten, was für uns alle gilt: Wir müssen zu dem werden, was wir sind, um bis an die Grenzen unserer Gesamtfähigkeit zu existieren. Nakotas Problem ist es, dass sie den inneren Imperativ mit der äußeren Welt verwechselt. In einem anderen Buch... wäre sie vermutlich die Heldin und würde die Welt retten.

 

Christian Dörge: Wenn Nakota der Kern ist, der personifizierte Kern... dann muss dieser Kern ziemlich dunkel und voller Geheimnis sein, nicht wahr?

 

Kathe Koja: Sie scheint so komplex zu sein wie das Geisterloch selbst... Zumeist sind wir für uns selbst ein Mysterium, denke ich, für uns alle.

 

 

Christian Dörge: Der Name Nakota ist ziemlich ungewöhnlich... Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Assiniboine oder der Kultur/Spiritualität der Assiniboine und der Figur Nakota?

 

Kathe Koja: Ich kam an einer Siedlung namens Nakota vorbei, und es machte Ping!: Ah, okay, das ist ihr Name. Es gibt keine von mir beabsichtigte Verbindung zu den amerikanischen Ureinwohnern.

 

 

Christian Dörge: Musst du dich noch immer dafür rechtfertigen, eine Autorin von ziemlich drastischen Horrorromanen zu sein?

 

Kathe Koja: Wem gegenüber?

 

Christian Dörge: Absurderweise herrscht nach wie vor - zumindest in Deutschland und in einigen Teilen Europas - seitens der Medien und des Publikums die Auffassung, Horror-Romane wären die Domäne männlicher Autoren, insbesondere, sobald es um eine etwas drastischere Art von Horror-Literatur geht. Begegnen dir Menschen, die es als merkwürdig empfinden, dass du eine Autorin von Horror-Romanen bist?

 

Kathe Koja: Mir begegnen Menschen, die es merkwürdig finden, dass ich Horror-Romane und Jugendbücher und historische Romane schreibe, was mich durchaus irritiert, als wären Genres ein Zaun oder eine Zwangsjacke.  Ich bin der Meinung, Genres sind wie Partys, und ich möchte auf alle Partys gehen, die mir Spaß machen!

 

 

Christian Dörge: Erinnerst du dich an den (entscheidenden) Moment, als dir das Geisterloch als Metapher in den Sinn kam?

 

Kathe Koja: Nein, aber ich entsinne mich des Moments, als mir bewusst wurde, dass das Buch vollendet war: Ich befand mich in dem Haus, das sich mein Mann, Rick Lieder, mit Craig Newmark teilte, es war später Vormittag, die Sonne schien durch das Wohnzimmerfenster, und ich erkannte, dass die Geschichte genau dort angekommen war, wo sie ankommen musste, es gab nichts mehr, was ich noch hätte hinzufügen können, es war erledigt. Ja!

 

 

Christian Dörge: Könnte es nicht sein, dass in jeder Wohnung, in jedem Haus, in jedem öffentlichen Gebäude ein Geisterloch existiert - vielleicht (noch) unsichtbar, versteckt hinter Büchern, Schränken, Kühlschränken, unter (Kinder-)Betten oder im Fernseher? Würden die Menschen mit diesen Geisterlöchern - so wie es Nakota tat - zu experimentieren beginnen, oder würden sie einfach die Flucht ergreifen?

 

 Kathe Koja: Unzählige Geisterlöcher! Zweifellos würde sie auf YouTube zu sehen sein, und das würde zu nichts Gutem führen.

 

 

Christian Dörge: Und sollte es - weiterhin - »nur« ein Geisterloch geben... könnte es passieren, dass dieses Geisterloch größer und größer wird - wie eine Singularität?

 

Kathe Koja: Das ist eine Frage für einen Physiker. Brian Greene könnte das beantworten...

 

 

Christian Dörge: Was würdest du tun, wenn du eines Morgens ein Geisterloch in deiner Wohnung entdecken würdest?

 

Kathe Koja: Ich würde mir meine Katze schnappen und verschwinden.

 

 

Christian Dörge: Und was würde passieren, wenn jemand, den du liebst, mit einem weinenden Loch in der Hand zu dir kommt?

 

Kathe Koja: Tief einatmen und versuchen zu helfen.

 

 

Christian Dörge: Auch der Name Shrike ist recht ungewöhnlich. Wolltest du dieser Person - durch die Wahl dieses Namens - ganz spezifische, unverwechselbare Eigenschaften verleihen?

 

Kathe Koja: Shrike entspricht in der Tat dem Bild von Nakota, jenem Bild, das die Menschen von ihr haben sollen: der zu allem entschlossene Mörder, das erfolgreiche Raubtier: Leg' dich nicht mit mir an, oder ich spüre dich auf und fresse dich.

 

 

Christian Dörge: Kannst du dir The Cipher als Theaterstück vorstellen? Wie könnte eine solche Inszenierung im Idealfall aussehen?

 

   Kathe Koja: Ich würde sehr gern eine Performance-artige Lesung von Cipher machen: ein nur schwach beleuchteter Raum, ein Stuhl, irgendetwas in der Ecke, kaum wahrnehmbar für das Publikum... Aber die Geschichte bietet die unterschiedlichsten Möglichkeiten einer (theatralischen/dramatischen) Umsetzung.

 

Kathe Koja. Photo © by Rick Lieder.
Kathe Koja. Photo © by Rick Lieder.

 

Christian Dörge: Du bist auch als (Theater-)Regisseurin tätig. Was verbirgt sich hinter nerve?

 

Kathe Koja: nerve ist mein Ensemble von Künstlern – aus den Bereichen Musik, Bewegung/Tanz, Installationskunst -, die gemeinsam an der Interpretation und der Erschaffung von Performance-Kunst arbeiten, die sich aus Theaterstücken, Romanen, Gemälden, die ich in Form von Drehbüchern adaptiere, zusammensetzt. Wir treten u. a. in Galerien auf, in einer historischen Kirche (Marlowe's Faustus), in verrückten Stahlkonstruktionen im Freien, umgestalteten Vorschulklassen-Räumen, in einem viktorianischen Wohnhaus, einem alten Kaufhaus in Detroit etc. ...  Unser Publikum erlebt einen Text von innen, mit der ganzen Intimität eines leidenschaftlichen Lesers.

 

 

Christian Dörge: Warum hast du ausgerechnet den Name nerve gewählt? Geht es darum, mit einer Vielzahl von Kunstformen verschiedene Arten von Impulsen auszulösen?

 

Kathe Koja: Meine Kernaussage hinsichtlich nerve und seines kreativen Ensembles lautet: »Wir definieren Erfolg als Empfindung. Wir nehmen einen Raum und nutzen ihn. Wir erschaffen einvernehmliche Kunst. Unser Publikum ist überall.«

 Die Nerven liefern Informationen an das Gehirn, einige schmerzhaft, andere angenehm, alle jedoch nützlich, und genau das versuchen wir auch mit unseren Produktionen zu erreichen. Was das Publikum aus diesen Informationen macht, hängt letztlich von ihm ab.

 

 

Christian Dörge: Warum hast du dich sich für die Adaption von Doktor Faustus entschieden? Wie werkgetreu war die Produktion? Wurde der Text modernisiert?

 

Kathe Koja: Ich liebe Marlowes Faustus, und meine Adaption ist absolut werkgetreu: Jedes Wort entstammt seiner Feder. Und was sind das für Worte! »Das Blut Christi strömt am Firmament«, »Ihre Lippen saugen meine Seele aus, sieh, wohin sie fliegt«... Ich habe das Stück komprimiert und mein Publikum um Mitwirkung gebeten, und über sechzig Minuten sind eine lange Zeit, um diese sehr spezielle Art der Mitwirkung einzufordern und aufrecht zu erhalten.

 

 

Christian Dörge: Gibt es ein bestimmtes Stück, das du unbedingt inszenieren möchtest?

 

Kathe Koja: Im Moment arbeite ich an einem meiner Lieblingsstücke, Edward II.: eine Willkommensparty für den im Exil lebenden Liebhaber des Königs, die in einer schmutzigen Punk-Bar spielt. Marlowes stürmischer Text und ein Publikum, das wir dazu einladen werden, sich in glitzernden Punk-Drag oder Couture zu kleiden - ich kann's kaum erwarten.

 

Christian Dörge: Edward II. erscheint mir - wie auch Doktor Faustus - nahezu vollkommen zeitlos; und beide Stücke sind auf das 21. Jahrhundert übertragbar. Glaubst du, dass es auch für Schriftsteller des 21. Jahrhunderts möglich ist, so zu schreiben, dass ihre Werke für die Menschen des - sagen wir mal - 23. Jahrhunderts ebenso zeitlos sein könnten?

 

   Kathe Koja: Lasst es uns hoffen! Eine grundlegende Definition von Kunst ist ein Werk, das Bestand hat, ein Werk, das immer etwas Sinnvolles und Nützliches zu bieten hat, für diejenigen, die es erleben. Und das trifft 150%ig auf Edward II. zu, es ist derart relevant für unsere Zeit - gerade jetzt -, dass es beinahe schon beängstigend ist.

 

Die US-Ausgabe von BAD BRAINS.
Die US-Ausgabe von BAD BRAINS.

Christian Dörge: Du hast Night Of The Living Dead als einen der Filme genannt, die dich wirklich und nachhaltig beeinflusst haben. Wie würdest du diesen Einfluss beschreiben?

 

 Kathe Koja: Ich sah den Film in einem Drive-In, als ich acht Jahre alt war, eingezwängt auf dem Rücksitz zwischen meinen schreienden Cousins, und der Film lehrte mich, dass Autorität niemandes Freund sein kann, zu keiner Zeit. Eine unauslöschliche und wertvolle Lektion: Danke, Mr Romero.

 

 

Christian Dörge: Für mich war Night Of The Living Dead schon immer mehr als »nur« ein Horrorfilm... mehr als die haarige Pranke, die auf der Schulter einer scream queen liegt. Night Of The Living Dead hat eine starke sozialkritische Komponente - wie The Cipher.

Kathe Koja: Letztendlich geht es bei The Cipher um die Charaktere, um ihre Abgründe - darum, wie sie miteinander umgehen (gefangen in einer extremen Situation). Das Geisterloch selbst ist im Grunde ein Katalysator, der bestimmte menschliche Eigenschaften und Gruppendynamiken verstärkt - ähnlich funktioniert die Zombie-Bedrohung in Night Of The Living Dead. Stimmst du mir zu?

 

 Christian Dörge: Absolut.

 

Kathe Koja: Wir waren uns definitiv einig: Night Of The Living Dead ist weit mehr ist als bloß ein Horrorfilm: Er spricht zu uns mit der Sprache der Angst, aber das mag daran liegen, dass diese Sprache für Romero am natürlichsten war, am sympathischsten; sie entspricht fraglos seiner Definition von Kunst.

 

 

Christian Dörge: Es wird oft behauptet, der zweite Roman sei für einen Autor schwieriger als der erste. Wie schwierig - oder wie einfach - war die Reise von The Cipher nach Bad Brains?

 

Kathe Koja: Sehr einfach. Skin hatte mehr bewegliche Teile in sich und ich musste erst lernen, sozusagen auf der Seite zu choreographieren, aber bei Bad Brains ging es nur um einen Mann und seine künstlerischen Prozesse, eine Landschaft, die mir damals bereits sehr vertraut war. Ich habe natürlich viel über Kopfverletzungen recherchiert, aber Austen war jemand, den ich wirklich kannte.

Cover der Apex-Ausgabe von BAD BRAINS.
Cover der Apex-Ausgabe von BAD BRAINS.

 

Christian Dörge: Was war deine Inspiration für das Schreiben eines Romans - halb fiktiv, halb faktisch - über Christopher Marlowe?

 

Kathe Koja: Im Grunde genommen: wahre Liebe. Ich entdeckte Marlowe durch Anthony Burgess' lehrreichen und wunderschön geschriebenen Roman A Dead Man In Deptford (Burgess' letzter Roman, nachdem er von Marlowe dreißig Jahre lang gewissermaßen verfolgt worden war, wie er sagte). Ich las diesen Roman, er hat mich völlig umgehauen, und ich musste einfach anschließend Marlowes eigene Werke lesen. Und ich verliebte mich sofort in diese poetische, raue, furchtlose, ungemein schöne Stimme, in seine Poesie, seine Stücke (Doktor Faustus, Tamburlaine I und Tamburlaine II, The Jew of Malta, Edward II., Dido Queen Of Carthage, Massacre In Paris)... anschließend begann ich damit, alle möglichen Biographien über Marlowe zu lesen. Und dann war mir klar, dass ich über ihn schreiben musste.

 

 

Christian Dörge: Ist die Entscheidung Marlowe oder Shakespeare nicht ein wenig wie Beatles oder Stones (oder Revolver oder Sergeant Pepper)?

 

Kathe Koja: Shakespeare spricht zu der Menge, zur Ordnung, zum Leben, ganz so, wie es die Gesellschaft am liebsten hat; Marlowe indes spricht zum Einzelnen, zum Leben, wie es tatsächlich ist. Auch gingen Marlowes Werk und seine Erfolge am Theater jenen von Shakespeare voraus, der offensichtlich viel von Kit gelernt hatte.

 

 

Christian Dörge: Worin besteht der Unterschied zwischen Kathe Koja, die The Cipher and Bad Brains schrieb, und Kathe Koja, die Christopher Wild schrieb?

 

Kathe Koja: Welch eine schöne Frage! Aber... es gibt keinen »angeborenen« Unterschied, nur 25 Jahre Arbeit - ich habe immer genau das Zeug geschrieben, welches mich in einer bestimmten Zeit am stärksten angesprochen hat.

 

 

Christian Dörge: Wie würdest du Christopher Wild beschreiben? Wie würdest du - falls überhaupt erforderlich - diejenigen, die deine Horror-Romane lieben, davon überzeugen, auch Christopher Wild eine Chance zu geben?

 

Kathe Koja: Horror ist allzu oft ein Bereich der Extreme, und Marlowe ist durchaus vertraut mit dieser Umgebung. Der Leser von Christopher Wild verbringt folglich seine Zeit mit einem Mann, der die Dunkelheit nicht nur versteht, sondern sie in durch seine Art zu leben herausfordert, durch seine Arbeit und seine Darstellung der Wahrheit, wie er sie sieht; und als berüchtigter Dramatiker und heimlicher Regierungsspion erlebte er tatsächlich allerhand, und vieles davon war ohne Frage schrecklich. Und wenn man ein Leser ist, der Freude hat an meiner Stimme als Autor, so wird er auch Freude haben an der Stimme von Christopher Wild - denn dieser Roman wiederum bildet eine Stimme ab, die ich liebe: Ich habe hart daran gearbeitet, Marlowes Sensibilität, seine Intelligenz, seine leidenschaftliche Affinität für sinnliche Schönheit, seine Verspieltheit in diesem Buch einzufangen und zu würdigen.

 

 

Christian Dörge: Wann hast du damit begonnen, Christopher Wild zu schreiben? War es schwierig, diesen Roman zu schreiben (vor allem wegen der englischen Sprache des elisabethanischen Zeitalters)?

 

Kathe Koja: Ich begann im März 2016, und das Buch wurde Anfang 2017 fertiggestellt. Und die wirkliche Herausforderung war tatsächlich der Beginn, der Anfang – im Ernst, wer bin ich, dass ausgerechnet ich über Marlowe schreibe? Und dann schreibe ich den Roman auch noch aus seiner Perspektive und bewege ihn überdies durch die Zeit: von seinem elisabethanischen England über die USA der McCarthy-Ära bis in eine dunkle globale Zukunft, die sich bereits heute am Horizont abzeichnet...

 Aber dann dachte ich: Was würde Marlowe tun? Und ich hab's einfach gewagt.

  

  Christian Dörge: Wie du bereits andeutest präsentiert dein Roman dem Leser drei Christopher-Wild-Episoden - Marlowes letzte Tage im elisabethanischen London, Marlowe in den 1950er Jahren und Marlowe in einer nicht allzu fernen Zukunft. Was verbirgt sich hinter dieser ganz speziellen Konstruktion? Willst du verdeutlichen, dass du diese Figur gewissermaßen überall platzieren kannst oder darum, dass ein Christopher Marlowe Bestandteil jeglicher Epoche sein könnte (oder gar sollte)?

 

Die US-Ausgabe von CHRISTOPHER WILD.
Die US-Ausgabe von CHRISTOPHER WILD.

Kathe Koja: Als ich Marlowes Werke las, als ich über sein Leben las, setzte sich beides für mich wie eine Art Beben bis in die die Gegenwart hinein fort - nicht nur, weil es Kunst ist (und wahrhaftige Kunst ist immer relevant), sondern weil die durch Spannungen erzeugte Atmosphäre (zunehmende Überwachung, der unaufhaltsame soziale Wandel) - jene Atmosphäre also, die ihm bestens vertraut war - genau die ist, welche wir aktuell durchleben. Und ich erkannte, dass diese Lebensumstände auch im Verlauf anderer Epochen verschärft worden waren und dass Marlowe auch dort von größter Bedeutung war und es stets bleiben würde.

 

Aber seine Präsenz ist mehr als nur bedeutsam, sie ist notwendig: eine Stimme wie die seine in einer Zeit wie dieser und in Zeiten, die kommen werden. Er spricht nicht nur eine machtvolle Wahrheit aus, er stellt diese Macht nach außen hin dar, damit wir genau sehen können, wie diese Macht funktioniert: Da gibt es jenen Moment in Christopher Wild, in dem Marlowe mit einem Sicherheitsbeauftragten konfrontiert wird, der versucht, seine Arbeit zu unterstützen, indem er ihm Schutz vor Verfolgung anbietet:

 

 

Die Politik der Regierung braucht jene, die in ihrem Namen handeln -

 So wie Maden Leichen brauchen.

 Was bedeutet das?

 Es bedeutet, dass ich nicht für dich schreiben werde.

 

 

Das ist eine Stimme, die wir dringend brauchen, jetzt und immer.

 

 

 Christian Dörge: In deinem Roman erweist sich die Ermordung Marlowes als politisch motiviert. Ist dies deine Überzeugung - oder ist es lediglich Spekulation/Provokation?

 

 Kathe Koja: Es ist absolut meine Überzeugung, die sich aus dem Lesen der verfügbaren Fakten ergibt, einschließlich des lächerlich ungeschickten Untersuchungsberichts. Charles Nicholl schrieb ein schreckliches, vernichtendes Buch, The Reckoning, über das zweckmäßige und korrupte elisabethanische Spionagenetzwerk und wie Marlowes Beteiligung daran letztlich zu seiner Ermordung führte.

 

 

Christian Dörge: Soweit es mich betrifft, fühlt sich Christopher Marlowe stets extravagant, geradezu grell an - und er war in seiner Arbeit und in seinem Lebensstil (im Vergleich zu den meisten seiner künstlerischen Zeitgenossen) ganz und gar Künstler. Ist es das, was ihn... attraktiv macht?

 

 Kathe Koja: Die Persönlichkeit, die in seinem Werk brennt und funkelt, die rebellische Energie, das unbeirrbare Beharren darauf, zu sein, wer er war: das ist in der Tat ausgesprochen attraktiv.

 

 

 Christian Dörge: Christopher Wild wäre geradezu perfekt als literarische Vorlage für ein Bühnenstück...

 

 Kathe Koja: Dem kann ich nur zustimmen: Marlowe war ein Mann der Bühne, und die Bühne wird für immer sein Zuhause sein. Und ich habe tatsächlich verschiedene Pläne, angefangen mit einer Performance-artigen Lesung, eine Art Fortsetzung der Drunk-On-Words-Lesungen, die ich anlässlich der Veröffentlichung von Christopher Wild in diversen Bars veranstaltet habe.

 

 

Christian Dörge: Um noch einmal auf nerve zurückzukommen: Bist du die treibende Kraft hinter diesem wunderbaren Projekt?

 

Kathe Koja: Das bin ich in der Tat - ich habe nerves vor etwa acht Jahren gegründet, mit einem sich immer wieder verändernden Ensemble von Schauspielern, Tänzern, Musikern und Komponisten, von visual artists, Animations- und Installations-Künstlern und von Künstlern, die mit Düften arbeiten. Ich hatte noch nie zuvor ein Projekt geleitet, in dem das Element der Performance im Vordergrund steht, aber als ich den Trailer für meinen Roman Under The Poppy drehte, lernte ich, wieviel Spaß es mir bereitet, mit einem Kollektiv bestehend aus kreativen Menschen zu arbeiten.

 

 

Christian Dörge: Was war für dich der Auslöser, den Schritt von der Schriftstellerin zur Dramatikerin zu wagen?

 

Kathe Koja: Ich wollte unbedingt den Trailer für Under The Poppy drehen! Und dann wollte ich, dass Poppy als Performance aufgeführt wird... was dann auch der Fall war, in unterschiedlichen Adaptionen, darunter am Detroit Institute of Arts, in einem riesigen (ehemaligen) Industriezentrum und in einer viktorianischen Villa.

 

Trailer UNDER THE POPPY von Diane Cheklich.

 

Christian Dörge: 2016 hast du eine Dracula-Adaption auf die Bühne gebracht. Was kannst du über dieses Projekt erzählen?

 

Kathe Koja: Dracula hat eine enorme erzählerische Kraft - der Graf wird für immer leben, und das nicht nur, weil er untot ist -, und ich wusste ganz einfach, dass ich eine Bühnen-Version des Romans machen wollte. Also habe ich die Geschichte auf ihre absolute Essenz reduziert: auf den Hunger. Wer steht an der Spitze der Nahrungskette, wer darf wen essen?

Ich inszenierte das Stück in einem Kaufhaus aus den 1920er Jahren, in welchem den Zuschauern zwei Dramolette in den riesigen Schaufenstern vorgeführt wurden: die verführerische Lucy, die sich zum Abendessen umzog, und der verrückte Renfield, der aus seiner Zelle entkam, beide auf dem Weg in die Katakomben, um sich Dracula und dem hoffnungsvollen, ruhelosen Jonathan Harker anzuschließen, den Dracula zum Vampir zu machen versucht. (Mein Dracula wurde von einer Schauspielerin dargestellt; ich habe die Rolle nach der Figur gecastet, nicht nach dem Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit oder was auch immer.) Und bei diesem Abendessen waren die Zuschauer zugleich auch »Gäste«, serviert wurden vegane Speisen, die von einem Koch zubereitet wurden. Und jede Nacht entschied der Schauspieler, der Harker spielte, aufs Neue, ob seine Figur bleiben und ein Vampir werden oder in die Nacht hinaus fliehen würde... Und ein ewig predigender/dozierender Van Helsing kam in dem Stück nicht vor!

Und ich freue mich, dass mein Dracula-Skript für den Wilde-Award 2016 nominiert wurde.

DRACULA - Plakat-Motiv von Antechambre Design.
DRACULA - Plakat-Motiv von Antechambre Design.

 

Christian Dörge: Dein aktuellstes Theater-Projekt - das wunderbar zu deinem Roman Christopher Wild passt - ist Glitter King. Worum geht es in diesem Stück?

 

Kathe Koja: Glitter King ist eine Adaption von Marlowes Edward II., die ich in einem schmutzigen Punk-Club angesiedelt habe: Stell dir einfach das Berlin der 1980er Jahre vor, intensive Musik, Graffiti, verfallene Badezimmer, schwarzes Leder... Edward schmeißt eine Willkommensparty für seinen Geliebten Gaveston, aber die verärgerte Queen und der gewalttätige Baron Mortimer sind auch auf der Party, und das Publikum betritt den »Club«, um an der Feier teilzunehmen. Bei diesem Projekt arbeitete ich mit drei Tänzern, einem Schauspieler, drei Musikern (darunter Cornelius Harris von der legendären Band  Underground Resistance) und mit einem Installations-Künstler zusammen, um die Atmosphäre von Eifersucht, Wut und Liebe zu kreieren. Und ich selbst habe den knallharten Türsteher gespielt!

 

 

Christian Dörge: Inhaltlich empfinde ich Glitter King - wiederum - auf fast magische Weise als zeitlos. War dies einer der (Haupt-)Gründe für dich, ausgerechnet dieses Stück zu inszenieren?

 

Kathe Koja: Wegen Christopher Wild und meiner anhaltenden Faszination für Marlowe bin ich seit einiger Zeit in seine Arbeit vertieft: Ich inszenierte zwei Adaptionen seines Faustus - eine in einer Kirche (wo sich die Todsünden unters Publikum mischten), eine zweite mit dem Titel Night School, welche die Vorstellung von Leben, Hölle und Himmel als eine Art Lernerfahrung darstellte -, und ich zweifelte nicht daran, dass ich seinen Edward machen musste, da er so intensiv vom Preis der Freiheit spricht und uns (in den USA) dieser Preis gerade jetzt besonders schmerzhaft in Erinnerung gerufen wird. Marlowes Stimme und sein Werk werden immer, immer zeitgemäß sein.

 

 

Christian Dörge: Wie hat sich das Stück von der Vorbereitung (Besetzung, Textproben, Bühnenproben etc.) bis zur Premiere entwickelt? Gab es während der Proben-Phase tiefgreifende Veränderungen? Wie intensiv wurde das Stück von den Mitwirkenden diskutiert und gestaltet?

 

Kathe Koja: Mein Glitter-King-Skript entspricht in jeder Hinsicht Marlowes leidenschaftlicher Sprache, gleichzeitig berücksichtigt es den Umstand, dass das Stück (nun) in einem lauten, dunklen, überfüllten Club spielt - die Körperlichkeit der Darsteller ist so gestaltet, dass sie es ist, welche die Geschichte trägt. Wenn man sich in einem Club befindet, hört man vielleicht nicht, was die Leute sagen, aber wenn man sie beobachtet, weißt man genau, was vor sich geht.

Ohnehin arbeite ich gern sehr organisch, indem ich das Drehbuch verwende, um die Erzählung zu formen, während ich es gleichzeitig zulasse, dass die unterschiedlichen Talente und Inspirationen und Interpretationen des Ensembles wachsen und fließen.

Ich erinnere mich an einen Moment während der Proben, als Marianne Brass als Gaveston und Jared Scott Morin als Edward zusammen tanzten, und Marianne spontan ihre Mütze auf Jared setzte, sie über seine Augen zog - und wir alle riefen: JA! Wenn es richtig ist, dann weiß man es einfach.

GLITTER KING - Plakat-Motiv von The Divine Iguana.
GLITTER KING - Plakat-Motiv von The Divine Iguana.

 

Christian Dörge: Wie waren die Reaktionen des Publikums/der Medien?

 

Kathe Koja: Das Publikum war abwechselnd misstrauisch, urkomisch, ängstlich und aufgeregt – zumindest waren dies die Reaktionen, wie ich sie wahrnahm. Und es war toll, Glitter King in No Proscenium zu finden:

https://noproscenium.com/detroit-glitter-king-b63c2452f7a7

 

 

Christian Dörge: Welches nerve-Projekt planst du für die nächste Zukunft?

 

Kathe Koja: Derzeit arbeiten wir an einem Auftragswerk auf der Grundlage spanischer Kunst: die biomorphe Wildheit von Gaudi in Barcelona, konfrontiert mit der Strenge Guggenheims in Bilbao, interpretiert von zwei Tänzern, zwei Musikern und einem Installations-Künstler; beide Projekte werden komplett im Freien stattfinden.

Für die Zeit danach plane ich eine Ein-Mann-Show, River Street, basierend auf Christopher Wild.

 

 

Christian Dörge: Was dürfen wir literarisch von dir erwarten?

 

Kathe Koja: Zurzeit arbeite ich an einem neuen Roman mit dem Titel The Full Experience, über immerse performance und virtual reality - und darüber, was geschieht, wenn Kunst ein wenig zu real wird.

 

 

 

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